Myrrhe-Rätsel: Wie wurde Balthasar, einer der drei Könige, schwarz?
On Dezember 19, 2021 by adminSie kamen und brachten Geschenke aus Gold, Weihrauch und Myrrhe. Diese Beschreibung der Heiligen Drei Könige oder Weisen, die einem Stern zum neugeborenen Jesus folgten, hat Künstlern seit jeher viel Spielraum gegeben, um kunstvolle Kisten, Becher und Gefäße darzustellen. Die Gemälde zeigen sie in Begleitung von Pagen, Dienern, Soldaten und Lasttieren – ein ganzes königliches Gefolge. In ihren schönsten Kleidern, auf ihrem Weg durch Wüsten und über Berge, geführt von einem Licht, sehen diese Pilger zum bescheidenen Stall immer prächtig aus.
Obwohl das Matthäus-Evangelium diesem königlichen Trio keine individuellen Namen gibt, kennen wir sie dank eines griechischen Manuskripts aus dem Jahr 500 nach Christus als Balthasar, Caspar und Melchior. Ebenfalls im Mittelalter wurden sie von Astronomen zu Königen ernannt. Und in einem Text, der dem ehrwürdigen Bede, dem Historikermönch aus Northumbria, zugeschrieben wird, ist Balthasar schwarz. Trotz Bedes Behauptung gibt es nur sehr wenige Abbildungen eines schwarzen Balthasar vor 1400, was möglicherweise daran liegt, dass die Europäer des Mittelalters so wenig Vorstellung von Afrikanern hatten. Erst mit dem Anbruch der Renaissance wurde Balthasars Hautfarbe mit Nachdruck dargestellt. Tatsächlich inspirierte das trompetende, freudige Festtagsmotiv der „Anbetung“ einige der reichhaltigsten Darstellungen schwarzer Menschen in der europäischen Kunst.
Einen Vorgeschmack darauf kann man in Sensing the Unseen bekommen, der Weihnachtsausstellung der National Gallery in London, die eine ganze Klangkulisse schafft, um die Anbetung der Könige, das wunderbar detaillierte Gemälde von Jan Gossaert aus den Niederlanden, zu untermalen. Inmitten von Ochsengesang und Glockengeläut spricht Balthasar: Ein Gedicht der britisch-nigerianischen Schriftstellerin Theresa Lola gibt diesem schwarzen König, einem Fremden in einem fremden Land, eine Stimme. Lola stellt sich vor, wie er darüber nachdenkt, wie anders, wie selbstbewusst er sich fühlt. „Der Boden scheint seine Zähne zu öffnen, entweder um mich zu beißen oder um mich zu küssen – meine Augen fühlen sich fremd an. Ich glaube, um tief zu wissen, muss man tief schauen.“
Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf die nachdenklichen Augen und das melancholische Gesicht von Balthasar in Gossaerts Szene, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts gemalt wurde. Manchmal sind all diese akustischen Zusätze jedoch eher eine Ablenkung als eine Bereicherung: Man schaut auf Bildschirme statt auf das Werk, inmitten einer digitalen Umgebung, die nicht lebendig genug ist, jedenfalls nicht so lebendig wie das Gemälde. Dennoch hebt diese Feier von Balthasar etwas Neues und Revolutionäres hervor, das in der Kunst der Renaissance geschah, etwas, das den schwarzen Magus auch heute noch eindringlich macht, da sein Bild auf Millionen von Weihnachtskarten erscheint, die in der ganzen Welt verschickt werden, wobei sich nur wenige Menschen bewusst sind, wie bahnbrechend das Bild war, das sie gerade in einen Umschlag eingeschweißt haben.
Künstler im Europa des 15. und 16. Das Auftauchen eines realistisch dargestellten schwarzen Charakters in der Kunst der Renaissance spiegelte nicht Bedes lange ignorierte Behauptung wider, sondern die wachsende Sichtbarkeit anderer Rassen in einem Europa, das bis dahin kaum eine Vorstellung von anderen Rassen hatte. Dies war auf eine seismische Verschiebung der globalen Ereignisse zurückzuführen, als europäische Schiffe, angeführt von Portugal und Spanien, den Atlantik erkundeten und an der afrikanischen Küste Handels- – und Sklavenposten errichteten. Hinter diesen dunklen Farbklecksen verbarg sich eine neue Neugier auf Menschen und Völker: das „humanistische“ Denken der Renaissance, das den großen französischen Philosophen Montaigne dazu inspirierte, zu erklären, dass alle Bräuche und Überzeugungen in der Welt gleichermaßen gültig sind. Es inspirierte auch Shakespeare dazu, in Othello einen schwarzen Helden auf die Bühne zu stellen.
In Albrecht Dürers Anbetung der Könige, gemalt 1504 in der Heimatstadt des Künstlers in Nürnberg, steht ein junger schwarzer Mann mit kurzen Haaren und roten Leggings elegant da und hält einen kugelförmigen goldenen Kelch voller Myrrhe, einem natürlichen Duftstoff. Der nächste König dreht sich um, um sein Geschenk zu betrachten – oder vielleicht seine Beine. Der langhaarige Magus, der sich gerade umdreht, ist ein Selbstporträt des bisexuellen Dürer selbst.
Was besonders faszinierend ist, ist die Tatsache, dass diese Darstellungen eines schwarzen Balthasars eine Wahl waren: Sie waren weder obligatorisch noch universell in der Kunst der Renaissance. In Florenz zum Beispiel wurde der schwarze Magus weiß getüncht. Alle Könige in Botticellis berühmter Anbetung von 1475 sind weiß (wie auch in der Prozession der Heiligen Drei Könige von Benozzo Gozzoli). Das liegt daran, dass es sich um Porträts der Familie Medici handelt, die sich gerne mit diesen weisen und prächtigen Monarchen identifizierte.
Der norditalienische Künstler Andrea Mantegna malte ebenfalls Anbetungen, die Balthasar zu einem Afrikaner machen. In einem intimen Werk sehen wir einen Porzellanbecher – ein Geschenk, das den ganzen Weg aus China gekommen sein muss. Der Grund dafür, der nur anachronistisch sein kann, spiegelt Mantegnas Entscheidung wider, Balthasar schwarz zu malen: Der Künstler scheint aus der Welt um ihn herum zu schöpfen. Mantegna heiratete in die künstlerische Bellini-Familie von Venedig ein, einer geschäftigen Seestadt, in der man eine chinesische Tasse finden und – wie die Geschichte von Othello dramatisiert – auf Schwarze treffen konnte.
Schwarze Balthasare in der Kunst der Renaissance sind oft mit solchen kosmopolitischen Hafenstädten verbunden. Gossaert ist ein gutes Beispiel dafür. Er begann seine Karriere wahrscheinlich in Antwerpen, einem der verkehrsreichsten Häfen Europas, in dem man Afrikanern begegnete. Im Jahr 1521 besuchte Dürer den Hafen und zeichnete ein rührend unmittelbares Porträt von Katharina, einer schwarzen Dienerin im Haushalt des portugiesischen Kaufmanns João Brandão. Dürers Tagebuch berichtet von seinem freundlichen Umgang mit portugiesischen Händlern, die ihm exotische Geschenke machten.
In Hieronymus Boschs delirierender, hypnotischer Anbetung der Heiligen Drei Könige, die er in den 1490er Jahren für ein Antwerpener Ehepaar malte, wäscht Joseph die Windel Jesu, während mysteriöse Menschenmassen zum Stall strömen, wo der Antichrist böswillig zuschaut. Die Pracht von Boschs Balthasar ist unbestreitbar. Das phantastische weiße Gewand des Magus, das in lebhaftem Kontrast zu seinem Teint steht, ist ein surreales Vergnügen. Es fällt cremig und doch solide auf den Boden und ist voller verschnörkelter, blattartiger Details, die eher geschnitzt als genäht aussehen. Es könnte sich um eines der Kunstwerke aus Elfenbein handeln, die portugiesische Schiffe aus Westafrika mitbrachten. Boschs Balthasar, so könnte man fast sagen, trägt afrikanische Kunst.
Wenn das übertrieben erscheint, so ist es kein Einzelfall. In einer Anbetung von Boschs Schüler Pieter Bruegel dem Älteren trägt Balthasar ebenfalls ein elfenbeinfarbenes Gewand. Und sein Geschenk ist ein goldenes Gefäß in Form eines Segelschiffs, ein explizites Bild für den atlantischen Gold- und Menschenhandel. Bosch malte seine Anbetung in dem Jahrzehnt, in dem Kolumbus in der Neuen Welt an Land ging. Die Andeutungen einer fremden neuen Erde, in der der Stern über einer erstaunlich futuristischen Stadt leuchtet, spiegeln sein Meisterwerk Der Garten der Lüste wider. Boschs Anbetung ist eine halluzinatorische Andeutung einer wiedergeborenen Welt, in der sich die Sklaven, die er in Antwerpen gesehen haben mag, in einen prächtigen König und seinen Pagen verwandelt haben.
Dürer gibt seinem schwarzen König die contrapposto-Pose einer klassischen Statue und scheint dem Pilgerkönig durch das Selbstporträt denselben Blick zuzuwerfen, den er den Männern auf einer Reise nach Venedig zuwarf, wo er über die sexy Soldaten schrieb. Seine Verehrung scheint sich zu einem grenzüberschreitenden Verlangen zu bekennen. Der Künstler schrieb über „den subtilen Einfallsreichtum der Menschen in fremden Ländern“, und die Geschenke, die sein Balthasar mitbringt, scheinen ein Ausdruck dieser Bewunderung zu sein.
Man kann Dürer, Bosch oder Bruegel gewiss nicht vorwerfen, eine rein weiße Welt zu malen. Bruegels prächtige Anbetung der Heiligen Drei Könige im Schnee bringt die Könige aus der Ferne direkt in ein archetypisches europäisches Dorf, das in einer weißen Weihnacht fröstelt. Schneeflocken besprenkeln die Oberfläche des Bildes – nicht nur das erste Mal, dass sie dargestellt wurden, sondern auch eines der radikalsten Beispiele, da Bruegel in seiner Darstellung eines monochromen Wunderlandes mit so etwas wie Abstraktion kokettiert.
Es sieht aus wie eine Weihnachtskarte, die mit Trappistenbier getrunken wurde, die Festtage auf magische Weise auf die Spitze getrieben. Die schrägen Dächer sind weiß. Der Boden ist weiß. Aber nicht alle Menschen sind weiß. Wie WH Auden in seinem Gedicht Musee des Beaux Arts schrieb, macht der alte Meister Bruegel jedes Ereignis, wie turbulent es auch sein mag, zu einem Teil einer viel größeren Leinwand voller alltäglicher, unscheinbarer Ereignisse. Hier verlagert er die Anbetung, die eigentlich die Haupthandlung sein sollte, weit nach links und hält sie sogar teilweise verborgen. Drei fremde Könige? Die Geburt des Messias? Balthasar ist Teil der europäischen Szene, seine Anwesenheit wird akzeptiert und kaum beachtet.
– Sensing the Unseen ist vom 6. Januar bis 28. Februar in der National Gallery, London, zu sehen. Die Galerie ist wegen Covid-19 geschlossen, aber die Ausstellung wird online verfügbar sein.
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